Alte Kanzlei

1871 übernahm Ernst Grote (1845–1927) den Kolonialwarenladen seines Vaters in Hannover, 1873 gründete er die Ernst Grote A. G., 1878 wurde der Firmensitz in das Gebäude der ehemaligen Alten Kanzlei verlegt. Neben dem Lebensmittelhandel betrieb man auch eine eigene Kaffee-Großrösterei und produzierte diverse Spirituosen, darunter auch den als »Hausmarke« bezeichneten Weinbrand »Alte Kanzlei«.

Dass Schmidt größere Mengen Alte Kanzlei konsumierte, gehörte schon früh zum Anekdotenbestand. So zeigt die Lfg. 53 vom Mai 1981 des ›Bargfelder Boten‹ auf der hinteren Umschlagseite das Etikett mit dem redaktionellen Zusatz: »Der Weinbrand des Arno-Schmidt-Forschers«.

Allerdings scheint Schmidt das Getränk wohl erst relativ spät für sich entdeckt zu haben. Erstmals taucht der Name in der im Januar 1963 geschriebenen Erzählung ›Die Wasserstraße‹ auf. Hier bekommt Felix, ein »freier Säufer in zylindrischen Zeitläufen«, den Weinbrand vom Ich-Erzähler Franz heimlich zugespielt und spricht ihm ausgiebig zu, was ihm die Titulierung als »Alter Herr Kanzlei=Rat« (BA I, 3, S. 437) einbringt:

Aachchch –.: »Kost’nn das Zeuk?«. ALTE KANZLEI: »Halb so viel wie Asbach.«

In ›Die Abenteuer der Sylvesternacht‹ (März 1963) wird der Name des Weinbrands mit »OLD CHANCERY« herbeizitiert (BA I, 3, S. 461).

Doch nicht nur seine Figuren trinken gern und viel Alte Kanzlei, sondern auch ihr Autor griff wohl häufiger zum Billigbrand. So finden sich abgelöste Flaschen-Etikette in den Materialsammlungen zu ›Caliban über Setebos‹ und zu ›Zettel’s Traum‹. Auf einem notierte Schmidt auf der Rückseite:

Während der Niederschrift stark benützt.
Bildbiographie, S. 404; Marbach, S. 168 / 170

In ›Caliban über Setebos‹ (April / Mai 1963) wird der Weinbrand nicht namentlich erwähnt, ist aber in einer Anspielung auf den französischen Spirtisten Allan Kardec (1804–1869; gehört zur May-Ebene der Erzählung) unschwer zu erkennen:

»Mein Vorschlag – : aichen Sie ihn [= Krug] mit 6 Flaschen ALLAN KARDEC […] und schenken Sie davon jedem der Anwesenden nach Belieben ein. […]«

Und natürlich wird dieser Spirtuose auch in ›Zettel’s Traum‹ heftig zugesprochen:

»Dem Herrn bitte noch 1 ›Alte Kanzlei‹; aber n richtjn Whizzky=tumbler: was für Männer, gelt Paul?«

Kaum erwähnt, wird der Name auch gleich etymmäßig verballhornt:

Sie, OLD=CUNT=SLY« […] Er, das Alte Canzlîdi […]
ebd.

Sehr viel später im Roman findet sich dann mit »10000 Liter Olle Cunt’S’Ley« (BA IV, 1, S. 873) ein fernes Echo.

Hans Wollschläger greift diesen Topos dann in seinem Fragment gebliebenen Schmidt-Dialog auf, wo es als Regie-Anweisung zu den drei Sprechern heißt: »Sie trinken Alte Kanzlei« (Insel, S. 277).

Zuletzt geändert: 19.3.2024
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