Weilaghiri
Die »Höllenstadt Weilaghiri« taucht bei Schmidt erstmals in der im Februar 1946 geschriebenen Erzählung ›Enthymesis‹ in einem Fiebertraum des Ich-Erzählers Philostratos auf (BA I, 1, S. 21–24). Im Traum ist Philostratos auf einem Schiff, das vom Kurs abkommt und sich einer »Riesenstadt« nähert. Nach verkommenen Vororten gelangt man zum Hafen, wo »Mädchen mit Schultertüchern« lockend rufen und Gegenstände an Bord geworfen werden. Philostratos erhält hier ein »dickes blutrot gebundenes Buch«.
Es polterte in der Kajüte, der Kapitän sprang die wenigen Stufen herauf, legte die Hand vor die Brust und rief halblaut : »Wehe uns! Wir sind verloren; denn dies ist Weilaghiri, die Höllenstadt! Keiner verlasse das Schiff, denn am Land seid ihr in entsetzlicher Gefahr; werft auch alle diese Geschenke fort.«
Trotz der Warnung geht Philostratos – es herrscht Wassermangel an Bord – an Land und betritt im Anschluss mehrfach die Stadt:
Und ging nun jeden Abend durch die Straßen und Gassen; sah die grellen Lichter der Schaufenster und die lärmenden Spelunken, sah Verbrechen und Laster, tausend Gesichter, zehntausend Gesichter, hunderttausend. Hier war immer Herbst. Öde die Vorstädte; schiefe Zäune faulten um graue Felder. Ich schlürfte in die Torwege und plauderte schlaff mit bummelnden Burschen und mageren Frauen mit schäbigen Einkaufstaschen. Vor einer Kneipe hockte eine billige Statue: der Fiebergott, mit dem Fuchsgesicht, dem Bündel roter Pfeile vor der Brust. Höker gafften fett aus schmierigen Regalen; Feuer kam, Krankheit und Krieg, oh Weilaghiri.BA I, 1, S. 23 f.
Wie eine Notiz zum ›Achamoth‹-Titel nahelegt, scheint sich der Albtraum des Philostratos’ einem realen Traum Schmidts zu vedanken.
Auch in der kurz nach ›Enthymesis‹ geschriebenen Erzählung ›Leviathan‹ (Oktober 1946) wird Weilaghiri erwähnt bzw. auf die entsprechende Passage in ›Enthymesis‹ angespielt:
Und das kranke Mädelchen kannte schon niemanden mehr, und schlug mit den Händen nach dem Fiebergott (mit dem Fuchsgesicht; dem Bündel roter Pfeile vor der Brust; siehe Weilaghiri).BA I, 1, S. 44 f.
Der »Fiebergott, mit dem Fuchsgesicht« findet sich auch im Fragment gebliebenen Jugendwerk ›Die Insel‹ (um 1937):
Bilder aus meiner jugend fielen mir ein, vor allem das vom sataspes, wie er auf seine grosse reise geht um das heisse land afrika, bruchstücke aus den gesängen meiner jugend, welche das leben des seefahrers festhalten sollten, vom fiebergotte mit dem fuchsgesicht, vom melanchlänen boreas, von seiner jugend im fernen Babylon am schilfflusse.
Das »blutrot« gebundene Buch, das Philostratos in seinem Traum von Bewohnern Weilaghiris zugeworfen wird, findet seinen Widerhall noch rund zehn Jahre später im 1954/1955 geschriebenen Roman ›Das steinerne Herz‹. Hier heißt es einmal recht unvermittelt:
Ein Buch blieb im LKW liegen : feuerrot der Einband (also wahrscheinlich ‹Printed in Weilaghiri›)
Der Traum von der »Höllenstadt Weilaghiri« scheint für Schmidt einen hohen Symbol- und Bedeutungswert besessen zu haben. So lässt Hans Wollschläger in seinem Fragment gebliebenen Schmidt-Dialog sein alter ego auf die Frage, »was war da los?«, nämlich in Norwegen 1944, antworten:
Ich weiß es nicht. Er hatte sich den Fuß angebrochen, lag im Krankenrevier, träumte von »Weilaghiri, der Höllenstadt«, was immer das war … Jedenfalls war etwas ›los‹ gewesen, von dem er weg wollte –: er meldete sich freiwillig zur Front.Insel, S. 301