Zuerst in: Schauerfeld, Heft 1, 2000

Theweleit liest Schmidt

Über Teil IV von Klaus Theweleits Pocahontas-Studie

Ich bestreite nicht die hohe Intelligenz, die weitausgrei­fenden Kenntnisse und die metho­dische Offenheit von Herrn Thewe­leit […]. Seine […] Dissertation ent­behrt der methodischen Strenge und der Selbstkontrolle gegenüber einem wucherndem Assoziations­vermögen, das alles mit allem zu verbinden weiß […].
Prof. Dr. Gerhard Kaiser, 16.9.1977

Eigentlich hätten sie sich schon früher finden müssen, Klaus Theweleit und Arno Schmidt. Schließlich gibt es kaum einen deutschsprachigen Autor »nach WW II«, wie Theweleit durchaus hintersinnig anglisiert, in dessem Werk die theweleitschen Topoi von Schreiben, Gewalt, Sexualität, Männer, Frauen, Kunst, Körper – kurz: von Leben und Tod derart eng verwoben sind wie bei Schmidt. Die Selbstinszenierungen seiner Erzähler – deren »Ich«-Sagen so aufdringlich ist, daß hinter der egomanen Penetranz unschwer die verzweifelte Anstrengung zu ahnen ist, gleichsam als solle mit der dröhnenden Vergewisserung des »Ich erzähle, also bin ich« die Präsenz von etwas grauenhaft Anderem zum Schweigen gebracht werden (das doch immer wieder im Subtext aller Texte zur Sprache kommt; ein Vorgang, der weit jenseits aller Dechiffrier- und Puzzleseligkeiten, den ästhetischen Rang des Werkes bestimmt) –, passen zum Theweleitschen Themenkreis ebenso, wie die bolzengrade-soldatische Haltung der Texte und ihres Autors den Begriff ›Männerphantasien‹ nahelegt: daß Arno Schmidt , »– king! – «, im ›Buch der Könige‹ keine Rolle spielt, kann ja schlechterdings nur ein Versehen sein.

Nun also endlich doch und ausgerechnet ›Pocahontas‹. Daß die Wahl – falls der Autor da überhaupt eine hat – auf diese eher unbekannte Erzählung Schmidts fiel, die vielen Lesern wohl nur als der Text in Erinnerung ist, der seinem Autor eine Strafanzeige wegen Gotteslästerung und Pornographie einbrachte, verdankt sich (zumindest vordergründig) dem Umstand, daß Theweleit eine Anmerkung in seinem ›Buch der Könige‹ ausführen wollte, die sich rasch zum Kapitel »Orpheus in Amerika« weitete, das wiederum zu einem mehrbändigem Projekt anschwoll, das sich dem Leben und der Legende des Indianermädchens Pocahontas – »das in die Grundfesten Amerikas eingebaut« sei und für Theweleit zum Anknüpfungspunkt einer zu schreibenden Sozialgeschichte des Kolonialismus zu sein scheint (wirklich sicher bin ich mir da allerdings nicht) –, widmen sollte, in dessen Rahmen natürlich auch die Literatur nach Pocahontas-Motiven durchforscht wurde:

Ebenfalls nicht übersehen werden sollte Pocahontas in der deutschen […] Literatur – wo sie sich als Thema manchmal schnell erledigte – wie etwa als typische Männerphantasie in Detlev Liliencrons ›Pocahontas‹-Drama von 1884 – teils aber auch gar nicht schnell erledigte, wie in Arno Schmidts ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ von 1953. Das Arno Schmidt-Kapitel wucherte, und ergibt einen eigenen Band; es ist der erste fertige unserer Pocahontas-Quattrologie.

Dieses Anschwellen des Materials, das eine beständig Weitung des gesteckten Rahmens verlangt und in dem jede Fußnote aufquillt wie der süße Brei im Märchen, ist typisch für Theweleit und ebenso typisch ist es, daß er auf gar keinen Fall den bannenden Zauberspruch des »Töpfchen, steh’« sprechen will, sondern immerfort weitersammelt, -schreibt und -assoziiert, bis das Thema fast unter all dem süßen Brei verschwunden scheint und der Autor es gerade noch schafft, ihn zwischen zwei Buchdeckel zu pressen.

»… und wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen«, endet das Märchen und damit beginnt die Lektüre von ›»›you give me fever‹«‹: Theweleit ist ein enorm fleißiger Leser und Spurensucher, ein emsiger Sammler und ungemein offener Assoziierer. Fast wirkt es so, als wolle er die versäumte Zeit wieder aufholen, entfaltet er auf den 328 Seiten des Buches doch eine Dechiffrier- und Deutungswut, die es problemlos mit allen Auswüchsen der Schmidt-Philologie aufnehmen kann und daß er immer wieder auf die detailleversessene ›Pocahontas‹-Analyse von Noering & Noering zurückgreift, ist da nur zu verständlich.

Das »wuchernde Assoziationsvermögen, das alles mit allem zu verbinden weiß«, das Gerhard Kaiser ihm – wohl durchaus indigniert –, attestierte, ist auch zwanzig Jahre danach ersichtlich noch vorhanden und wirkt und webt in einem fort. Theweleit verfolgt und analysiert noch die entlegensten Spuren und läßt sich in einem Geflecht von Fußnoten und Anmerkungen immer wieder willig abtreiben auf dem großen Strom der populären Kultur. Die thematische und formale Spannweite der interpretatorischen Bewegung läßt sich am einfachsten an den Illustrationen des Textes ablesen. Da finden sich Comics, Fotos, Logos, Standfotos, Zeichnungen, Gemälde, Kupferstiche, Landkarten, Kinderbuch-Illustrationen, Disney, Landschaftsaufnahmen, Pornographisches, Prospekte, Plakate – und mehr.

Natürlich sei die schiere Materialfülle, so Theweleit in einem Interview, »too much« für den einzelnen Leser (und auch für den Autor), aber man müsse too much zusammentragen, damit die Funken zwischen Autor, Leser und Material überspringen. Dabei herrscht bei allem scheinbaren Chaos durchaus keine Beliebigkeit, ganz gleich, wie dicht oder locker das Beziehungsgeflecht auch gerät, Theweleit ist ein sorgfältiger Weber und fleißiger Leser. Zu Beginn der »Pocahontas« liest Joachim etwa in einem Reiseprospekt zu »Cooperstown« und mokiert sich folgendermaßen:

Der Prospekt von Cooperstown: Heimat des Baseballs und James Fenimore Coopers (Was ne Reihenfolge! Und immer nur Deerslayer und Pioneers erwähnt. Ganz totgeschwiegen wurde das Dritte im Bunde, Home as found, wo er die Yankees so nackt geschildert hat, daß es heute noch stimmt, und das ja auch prächtigst am Otsego spielt: wenn der aus dem Grabe könnte, was würde der Euch Hanswürschten erzählen!)

Eine typische Schmidt-Stelle, in der ein überlegener Ich-Erzähler mal wieder alles besser weiß. Oder? Theweleit nimmt diese Stelle ernst, beschäftigt sich mit der Geschichte des Baseballspiels, liest die erwähnten Cooper-Texte und findet die erstaunlichsten Verknüpfungen, Spiegelungen und Verzahnungen, die weit über diese Stelle hinausreichen. So entdeckt er schon in den ersten 6 Zeilen der Erzählung mindestens zwei Cooper-Anspielungen und folgert: »Wir sind also schon auf der Reise Richtung Cooperstown am Otsego, bevor Schmidt den Namen Cooper und die Romatitel überhaupt fallen läßt«. Daß die Fahrt nicht in eine unbeschwerte Ferienidylle geht, signalisiert das »Rattatá Rattatá Rattatá« zu Beginn der Erzählung, das nicht nur die Zugfahrt charakterisiert, sondern auch eine Maschinengewehrsalve. Und in der Tat häufen sich schon in den ersten Zeilen Todesbilder und Verletzungen: Mädchen haben plötzlich Leichenaugen (»schwarze Kreise statt Augen«), die Fahrt geht durchs Tal des Todes (»Kylltal«), die Köpfe bekommen »feuerrote Querschlitze«, die Menschen haben »Flammen als Gesichter« und so fort.

Nicht immer sind die Interpretationen und Assoziationen so überzeugend wie an dieser Stelle. Theweleit zitiert, reformuliert, faßt zusammen, rekapituliert, sprachspielert und kalauert so lange, dreht und wendet jedes Wort und manchmal, ganz etymistisch, jede Silbe, bis er ihr einen neuen Sinn abgewonnen hat. Das macht dem Verfasser spürbar Spaß, der sich auch dem Leser über weite Strecken mitteilt. Mitunter jedoch beschleicht einen das Gefühl, entweder habe man da eine Pointe nicht verstanden oder aber die Autoren seien vielleicht ein wenig vom Weg abgekommen.

So führt die Spur von Selmas Namen bekanntlich zu Klopstock, dessen Namen Theweleit zu denken gibt: »Warum Klopstock, ausgerechnet, als Hinweispfahl? Es sind zwei, drei Gründe« – Klopstock wird als »Klopp-Stock« gelesen und damit als die »wooden clubs« (nebenbei: Baseball, Sie erinnern sich?), vor deren tödlichen Schlägen die historische Pocahontas 1607 den historischen John Smith rettet. Dieser Rettung entspricht in der Erzählung die Rettung Selmas vor dem klopstockischen Namen durch die Umbenennung in Pocahontas. Der tödliche Klopp-Stock wird schließlich in einen gänzlich anderen Stock verwandelt:

»Jetzt mußt Du Deinen Kopf hergeben!« und sie gehorchte überhastet und machte Alles falsch, stieß auch ein Paddel in den See und kletterte lange; bis sie dann auf dem Rücken vor mir lag, den schweren Kopf auf meinem blauen Höschen. Arme streicheln, Augen küssen (aber sie gingen sofort ängstlich wieder auf, und beargwöhnten, ob auch Alles genügte), im Haar wandern, »Ich mach Dich doch ganz naß«, und kam mit der Schläfe auf etwas Härteres zu liegen (Augen sofort zu!) und zitterte beherrscht: und wir klebten die Lippen aufeinander, bis wir fast ohnmächtig wurden.

Eine hochgradig sexuell aufgeladene Szene (wie praktisch jede Zeile des Textes), gewiß – aber ob »etwas Härteres« in Joachims Badehose nun tatsächlich ein Klopstock ist?

Plausibler wird diese Deutung allerdings im theweleitschen Kontext. Denn die hier erkennbare Überführung von körperverletzender, tödlicher Gewalt in eine liebevolle Körperlichkeit ist für Theweleit das zentrale Motiv der Erzählung. Er liest ›Pocahontas‹ ausdrücklich als »Körpertext«, nicht als Liebestext, das

Wort Liebe – erscheint im Text erst, als es an die Trennung geht, ans Zerreißende. Schmidt schreibt Sexualszenen, etwas, das man – wäre der Begriff nicht so in die Mangel gekommen [?] – als eine gelungen Form von »reiner Pornographie« bezeichnen könnte.

Ziel des Textes ist es, die psychischen, subkutanen Verletzungen, die das 3. Reich (Nazideutschland ist in ›Pocahontas‹ omnipräsent) den Körpern und ihrem Bewußtsein angetan hat, zu tilgen, ist der Versuch einer »Umwandlung von (Nazi)Gewalt in eine Politik der Köperberührung, die die Körper erhält und verlebendigt, […] statt sich (unaufhörlich) zu töten und abzutöten.« Der Fluch der bösen Tat soll wenigstens in der Literatur gebannt und vom Zwang erlöst werden, immerfort Böses zu gebären: »Jeder Liebesakt der Seelandschaft sucht so eine Gemeinheit zu löschen, die Selma (wie anderen Frauen) geschehen ist und die Pocahontas nicht wieder geschehen soll.« Damit dieses große humane Projekt überhaupt eine Chance hat, muß Sexualität in ›Pocahontas‹ vor allem im und mit einem Körpertext – und eben nicht mit einer idyllischen Liebesgeschichte, als die ›Pocahontas‹ häufig gilt – realisiert werden: »Schmidt weiß, daß ein Text in D’land über ›die Liebe‹ nur als radikal sexueller Text geht, als Text radikal sexueller Öffnung und Offenheit, als grotesk sexueller, sonst wird es ein Nazitext.« Unter diesem Blickwinkel wird auch verständlich, warum sich die Pornographie-Anklage ausgerechnet eine der deutlich pornographischen Stellen des Textes (die Bernd Rauschenbach sehr zurecht eine der »trostlosesten Beischlafszenen der Literatur« nennt), entgehen ließ: Schlicht deshalb, weil es in der Anklage um Pornographie gar nicht ging (das tut es bei derartigen Anklagen bekanntlich ja nie):

So fliegt sich […] das Sexuelle frei und löscht, mit jeder unverschämten Zauberzeile, »Nazitum« aus deutschen Nachkriegskörpern. […] Dies ist der »Skandal«, auf den Kirche, Justiz und teils Presse – mit grob-richtiger Nase – reagierten.

Mag man Theweleit auch im Detail widersprechen wollen und die ein oder andere Querverbindung nicht gar zu zwingend finden, seine zentrale These scheint mir – Klopstock hin, Klopp-Stock her – einleuchtend.

Auch wenn die Lektüre durch den etwas sprunghaften Gedankengang des Autors, durch den gelegentlich abgehackten Stil – dem das Bemühen, möglichst »un-deutsch« zu schreiben (»Sagen wir es so: Ich will keine Heimatstimme abgeben«) manchmal störend anzumerken ist – und das Geflecht von Text, Fußnoten und seitenlange Anmerkungen gewöhnungsbedürftig ist: ›»›you give me fever‹«‹ gehört zum Anregendsten, das es seit Langem zu Schmidt zu lesen gibt. Es sprengt wohltuend den routinierten Deutungsrahmen, in dem sich die Schmidtphilologie selbstgenügsam zu beschränken scheint und schlägt neue Schneisen durch den hermeneutischen Dschungel zum Text. Nach Theweleits Buch kann man Schmidt vielleicht noch einmal neu wahrnehmen, freier, ungezwungener, offener. Die Lektüre lohnt auf jeden Fall, selbst für den, der dem Autor keinen Millimeter folgen möchte. Und das ist mehr als man über viele Bücher sagen kann.

Klaus Theweleit, ›»You give me fever«. Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WW II‹, Frankfurt a. M., Stroemfeld 1999.
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