Im Jahr 2003 / 2004 veranstaltete die GASL eine Umfrage mit dem Arbeitstitel ›Lesergeschichten‹ unter Schmidt-Lesern: »Wie sind Sie zum Werk Arno Schmidts gekommen?«. Die Antworten wurden in ›»Da war ich hin und weg«. Arno Schmidt als prägendes Leseerlebnis‹ (Wiesenbach, Bangert & Metzler 2004) veröffentlicht. – Dies ist meine Antwort zur Umfrage.

Lesergeschichte

Es muss 1976 oder 1977 und ich also 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein, als der Vater eines Schulfreundes mich auf Arno Schmidt hinwies und mir ›Rosen & Porree‹ in die Hand gab. Was genau er mir dazu erzählte, weiß ich nicht mehr, im Gedächtnis geblieben ist mir vor allem meine Verblüffung über Formulierungen wie ›Kühe in Halbtrauer‹ und ›Abend mit Goldrand‹, die mir in ihrer unmittelbaren, präzisen Bildlichkeit eine verheißungsvolle Ahnung davon gaben, was Sprache vermag und eine nahezu glückspendende Kraft entfalteten.

An die Lektüre von ›Rosen & Porree‹ habe ich keine Erinnerung mehr; ich weiß nur, dass ich von den Texten begeistert war, mich die plane Handlungsebene aber nicht interessiert zu haben scheint. Genauer: was in den Texten erzählt wurde, habe ich nachweislich nicht verstanden. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass eine Schulfreundin, der ich das Buch geliehen hatte, indigniert meinte, die ›Pocahontas‹ sei eine geschmacklose Bordellgeschichte, während ich bestritt, dass in dem Text überhaupt Sexuelles zur Sprache käme. Nunja. Vielleicht war ich für mein Alter doch ein wenig naiv & harmlos.

Da sich meine Lektüre damals überwiegend aus dem Bestand der örtlichen Leihbibliothek speiste, die nichts von oder über Arno Schmidt besaß, blieb meine erste Schmidt-Lektüre auch einige Zeit meine einzige und die Erinnerung an diesen Autor wurde von anderen Dingen überlagert. Erst als ich 1979 in der Zeitung vom Tod Arno Schmidts las, erinnerte ich mich wieder an diese erste Begegnung und kaufte mir ›Das steinerne Herz‹ in der Taschenbuchausgabe. Schon nach den ersten, kaum verstandenen Seiten wurde ich süchtig nach dieser Art von Prosa.

In den folgenden Jahren gingen große Teile meiner knappen Geldmittel für Schmidt-Bücher drauf, ich besorgte mir alles, was ich kriegen konnte; ›Zettel’s Traum‹ wurde in Monatsraten vom Zivildienstsold abgestottert, danach waren sämtliche Dämme gebrochen und ›Abend mit Goldrand‹ oder ›Die Schule der Atheisten‹ schienen mir geradezu Schnäppchen zu sein. Was ich nicht bekam, wurde über das Fernleihsystem in der nahe gelegenen Kreisstadt besorgt, den ›Fouqué‹ klebte ich mir aus Kopien zu handlichen Büchlein zusammen.

Kurz: Für die nächsten Jahre war ich Schmidt verfallen. Wie kein anderer Autor bestimmte sein Werk mein Lektüreleben, ich las die Dinge, die er empfahl, verdammte die, die er verdammte.

Diese Phase der manischen Schmidt-Lektüre kulminierte 1986 in einem länglichen Aufsatz zur ›Funktion des Nibelungenliedes in Kaff‹ und klang danach rapide ab. Schmidts Texte sagten mir immer weniger, las ich gelegentlich noch etwas von ihm, war ich zunehmend befremdet, andere Autoren tauchten auf und verlangten Aufmerksamkeit – Wilhelm Raabe etwa, oder Heimito von Doderer, auch Thomas Mann und, natürlich, Goethe. Irgendwann hörte ich völlig auf, etwas von oder über Arno Schmidt zu lesen und empfand den ganzen Komplex als eher trostlos verbohrt und letztlich wenig reizvoll. Diese Latenzzeit dauerte bis zum Jahr 1998 und wurde mit dem Erscheinen der ›Bargfelder Ausgabe auf CD-ROM‹ beendet.

Heute beschäftige ich mich erneut mit seinem Werk und lese Schmidt mit distanzierter Verwunderung. Sein Werk fasziniert mich heute gerade an den Stellen, die ich früher nicht zur Kenntnis nahm: Da, wo sich verstörende Risse und Brüche zeigen und die vom Autor immer wieder behauptete berechnende Kontrolle über sein Werk sich als rationalisierende Schutzbehauptung entpuppt.

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