Vortrag, gehalten auf der GASL-Tagung 2000 in Lilienthal; gedruckt in Zettelkasten 20 (Jahrbuch der GASL 2001)

Der Fremdkörper

Fragmentarische Spekulationen zur Typoskriptform der späten Werke Arno Schmidts

[…] wobei ich denn die Uebrigen bitte, Dies als eine Privatsache […] zu betrachten, die hier zufällig öffentlich vorgeht.
Arthur Schopenhauer

IArno Schmidts Werk ist eine Provokation. – Das ist, zugegeben, eine Binsenweisheit. Doch manchmal muss man vermeintlich Allzubekanntes noch einmal deutlich formulieren, damit es nicht aus dem Blick gerät. Erst recht dann, wenn vielleicht gar nicht so sicher ist, was am Werk Schmidts denn provoziert, sind doch die Passagen, die sich als die typischen, provozierenden Elemente in Schmidts Texten geradezu aufdrängen, kaum dazu angetan, heute noch für allzu großes Aufsehen zu sorgen. Das, woran sich die zeitgenössische Aufregung entzündete und was Schmidt zu einem Skandalautor werden ließ, ist heute – zumindest unter dem planen Provokations-Aspekt – kaum weiter bemerkenswert. Als der Roman ›Das Steinerne Herz‹, der 1956 nur mit »von Krawehl vorgenommenen Kastrierungen« erscheinen konnte, 1986 schließlich im Rahmen der ›Bargfelder Ausgabe‹ erstmals unzensiert dem Publikum präsentiert wurde, werden sich zumindest die jüngeren Schmidt-Leser gefragt haben, was um alles in der Welt an diesem Text denn so bedenklich strafrechtlich relevant war, dass er 30 Jahre im Giftschrank liegen musste: Schon nach so kurzer Zeit muss man sein Gehirn »in die Falten jener Zeit« legen, um den Wirbel um diesen Roman begreifen zu können. In einer Zeit, in der ein Komiker wie Ingo Appelt seinen Witzhaushalt damit bestreitet, ein Schild mit der Aufschrift »Ficken!« in die Kamera zu halten, ist der Pornografie-Skandal um ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ schwerlich nachzuempfinden, und die schmidtsche Schimpfrede gegen Gott, Welt & Adenauer wirkt im modernen medialem Umfeld eher altbacken als provokativ.

Für einen Schmidt-Novizen, der heute, mehr als 20 Jahre nach Schmidts Tod und rund 45 Jahre nach der Zeitgenossenschaft jener Texte, denen der Autor seinen Ruf als »Guter Linke[r] Mann« und »Dagegen= SCHMIDT« verdankte, zum ersten Mal einem Werk begegnet, das für so viel seinerzeitigen Wirbel gesorgt hat, ist der Skandal wohl nur noch als historisches Faktum rekonstruierbar, das man eher verwundert zur Kenntnis nehmen und mit einem Achselzucken dem Komplex »50er Jahre« zuschlagen kann. Wer seine Lektüresozialisation heute mit Autoren wie, sagen wir mal: Wiglaf Droste, Joseph von Westphalen oder Maxim Biller beginnt – um nur drei der inzwischen recht wohlfeilen Allround-Polemiker zu nennen, denen zu jeder ephemeren Nichtigkeit ein beredter Text einfällt –, der wird die schmidtschen Tiraden vielleicht noch wohlwollend zur Kenntnis nehmen, kaum aber den Schock und die anhaltende Verstörung nachempfinden können, die sie ursprünglich ausgelöst haben, und die in den beiden bekannten Sammelbänden mit Rezensionen dokumentiert sind.

Wie für alles unter der Sonnen gilt auch für Schmidts Werk, dass es altert und da, wo es bloßes Material bietet – oder, genauer, zu bieten scheint –, besonders schnell. Die langen, wütenden Ausbrüche der Ich-Erzähler, die Schnoddrigkeiten und Provokationen, die die Zeitgenossen so empörten, sind heute blass und verstaubt: 50er Jahre. Die mitunter seitenlangen Exkurse und Einschübe über scheinbar oder tatsächlich Abgelegenes, das zur Schau stellen des Angelesenen, das enervierende Imponiergehabe des Ich-Erzählers, der sich an seinen philosophischen, politischen und wissenschaftlichen Exkursen immer mal wieder deutlich überhebt – was sich auch prompt in absurden bis albernen »Hier irrte Schmidt«-Polemiken¹ niederschlug –: all das kann auf einen Neu-Leser mit einigen Dezennien Abstand eher als ein verkrampftes Zeugnis aus der Pubertät der Republik wirken denn als brisante Polemik und außer einer gewissen Ratlosigkeit kaum noch etwas provozieren.

Eine ähnliche Erfahrung hält das Werk für den bereit, der seine einst manische Schmidt-Lektüre für mehrere Jahre unterbricht und sich ein wenig umtut in der Welt und in der Literatur jenseits der verschmidtsten Kontexte: Nach rund zehn Jahren fast vollständiger Schmidt-Abstinenz habe ich das erzählerische Werk bis zu den Typoskripten in der Erwartung, einen alten Bekannten zu treffen, noch einmal in chronologischer Folge gelesen. Um festzustellen, dass mir der alte Bekannte mit seinen kraftmeierischen Posen, Besserwissereien und peinlichen Proben vorgeblicher Allwissenheit nicht nur zum Ärgernis² geworden ist, sondern sich obendrein gar nicht als der alte Bekannte erwies, als den ich ihn in Erinnerung hatte: Das Werk war mir, bei aller Vertrautheit mit Wortlaut und manifestem Inhalt, seltsam fremd geworden. Hinter der einst maßlos bewunderten Fassade der schmidtschen Texte, hinter all den Posen, Possen und Rollen, den Großen Gesten aller Ich-Erzähler, wurde etwas sehr verstörend Fremdes erahnbar, das sich im Werk nicht einfach nur mitteilen, sondern in und mit ihm überhaupt erst zu konstituieren scheint. Die Texte reden nicht über etwas – sie reden etwas allererst herbei.

So greift, wer nach dem Nächstliegenden greift, zu kurz, und die Antwort, die auf die Frage, was am Werk provozierend wirkt, dieses auf eine Sammlung markiger Sprüche und Posen reduziert, bleibt nicht nur unbefriedigend – sie ist rundweg falsch und fehlgeleitet.

Trotzdem hat das Werk an provokativer Kraft nichts verloren – für den Novizen nicht und auch nicht für den langjährigen Leser. Im Gegenteil: Das Beunruhigende, ja Verstörende der schmidtschen Texte scheint eher ein ihnen eingeschriebenes Tiefenmuster zu sein, das sich dem empfänglichen Leser gewissermaßen als ein penetrant »Ich«-sagendes Nicht-Ich mitteilt, dessen oberflächliche Manifestation in Form der bekannten Schimpfrede nur den Blick verstellt auf das eigentliche sich im Textvollzug ereignende Unbeschreibliche.

Getreu Schmidts mehrfach vorgetragener Maxime, dass es schließlich »ganz gleich« sei, ob »Jemand KARL MARX besingt, oder die Jungfrau MARIA«, so lange »gut gesungen« werde, müsste sich der Blick auch bei seinem Werk nicht auf das Thema, sondern die Durchführung richten. Schmidt war kein sonderlicher Theoretiker und seine, sit venia verbo, theoretischen Schriften von den ›Berechnungen‹ über ›Sitara‹ bis zur »Etym-Theorie« sollten vom Leser genau so behandelt werden wie das belletristische Werk; ja die Differenzierung von erklärendem Sprechen einerseits und erzählendem Dichten andererseits bleibt einer – nicht zuletzt durch Schmidts Werk obsolet gewordenen – Teilung der Textproduktion verhaftet und reißt eine unfruchtbare Trennung dort auf, wo Gemeinsames zu suchen wäre. Sie geht angesichts seines Werks dem Autor auf den Leim und bleibt, wo nicht einfach unsinnig, so doch hoffnungslos unzureichend. Schmidts hartnäckige Bemühungen, nun unbedingt als Theoretiker unter allen Umständen Rechenschaft darüber ablegen zu können, was er als Praktiker unternimmt, dieser zwanghaft wirkende Machtanspruch übers eigene Machen, seine gegen jede nur mögliche Lektüreerfahrung mit seinem Werk von ihm behauptete berechnende Kontrolle über dieses: All das wäre selbst dem Werk zuzuschlagen und in seiner Rededynamik allererst zu verstehen. Insofern ist das beliebte Fragespiel, ob denn die Etym-Theorie nun stimme oder nicht, ebenso müßig wie die Verwunderung darüber, dass so vieles in seinen Essays offensichtlich nicht stimmt, zurechtgebogen oder schlicht erfunden ist: Um ihre Oberflächenthemata geht es diesen Texten erkennbar nicht.³

II»Diese spezielle Art von Enthusiasmus«, den Jan Philipp Reemtsma an den Schmidt-Lesern bemerkte, der ihm »widerstrebte« und mit dem er »nichts anfangen« konnte, ist jedem, der auch nur einen flüchtigen Blick auf die Rezeption des Werkes wirft, so unmittelbar einsichtig, dass man – zumal und erst recht in den ›Zettelkästen‹ der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser – auf eine ausführliche Belegsammlung verzichten kann. Die Cliquen-Bildung um Arno Schmidt, das Sektiererhafte seiner Fans, die Verehrungskulte um Werk und Person samt ihren verschroben-verschreberten Auswüchsen schlagen sich nicht nur in zahlreichen, ins Bekennerhafte lappenden Publikationen, sondern besonders in der Tatsache nieder, dass um diesen Autor – wie wohl um keinen anderen der Nachkriegszeit – mit ›Bargfelder Boten‹, ›Schauerfeld‹, ›Haide-Anzeiger‹, ›Zettelkasten‹ und nicht zuletzt den Publikationen der Arno Schmidt Stiftung eine veritable Textindustrie entstanden ist, zu deren weiterem Umfeld auch die auf Schmidt spezialisierte Versandbuchhandlung Bangert & Metzler, die Schmidt-inspirierte Reihe der ›Haidnischen Alterthümer‹ bei 2001 und wohl auch die von mir initiierte Mailingliste ASml zu zählen sind.

Den Beginn der organisierten Schmidt-Forschung markiert die erste Lieferung des ›Bargfelder Boten‹, die am 1. September 1972 erschien und ›Zettel’s Traum‹ gewidmet war. Auch wenn sich die Zeitschrift in den folgenden rund 30 Jahren natürlich weiterentwickelt und sehr weit von ihren Anfängen entfernt hat, auch wenn das ursprüngliche Konzept der Rück-Verzettelung des schmidtschen Werks inzwischen kaum noch ernsthaft als Ziel der Forschung ausgegeben wird, so zeigen die ersten Lieferungen doch in Reinkultur, wie mit dem Werk bis heute umgegangen und wie es bis heute vielfach missverstanden wird: als Literaturpuzzle, an dem sich der Witz der Besser- und Ganzgenauwisser beweisen darf und dessen Ziel es ist, die vom Autor mehr oder weniger kunstfertig montierten Zitate und Bezüge aufzulösen. »Dechiffrierung« des Werks war und ist bis heute vielfach die Maxime, die den Rand eines nicht so sehr engen als vielmehr beengenden hermeneutischen Horizonts markiert.

Auch wenn immer wieder beteuerte wurde und wird, dass die Zitat- und Anspielungsnachweise nichts weiter seien als Fußnoten und Marginalien zum Werk – das allerdings ohne diese Erläuterungen, so die Prämisse, schlechterdings unverständlich bliebe –, so drängt sich vielfach der Verdacht auf, dass sich die Verständnisbemühungen in dieser Fußnotenarbeit bereits erschöpfen. Das ist umso befremdlicher, als schon die Prämisse durchaus bezweifelt werden kann.

Es ist heute kein technisches, sondern nur noch ein logistisches Problem, einen definitiven Arno-Schmidt-Dechiffrier-Computer zu konstruieren, der – gefüttert mit den Beständen der schmidtschen Bibliothek, den Büchern, die Schmidt darüber hinaus nachweislich gelesen hat, sämtlichen verfügbaren digitalen Editionen von Texten der Weltliteratur, sämtlichen Werken und sonstigen erhaltenen Texten Arno und Alice Schmidts – auf Mausklick alle möglichen Verweise, Bezüge und zitierten Texte auswerfen und Kommentarbände praktisch auf Knopfdruck produzieren könnte. Doch was wäre damit gewonnen? Ja, wäre damit überhaupt etwas gewonnen? Oder würde der prompte Nachweis der in Teilen der Schmidt-Forschung so beliebten mythologischen Muster der Texte das Verständnis des Lesers nicht von vornherein kanalisieren und schlimmstenfalls auf die falsche Spur lenken? Muss der Leser für das fundamentale Verständnis von ›Caliban über Setebos‹ tatsächlich zwingend den Orpheus-Mythos im Text wiedererkennen – oder verstellt die Fixierung darauf nicht vielmehr den Blick auf ein Prosawunder, das sehr viel mehr und anderes ist als nur ein »Orpheus 1963«? Zumal der Nachweis mythologischer Spuren häufig mit der Geste vorgetragen wird, dass damit nun vielleicht nicht alles, so aber doch alles Wesentliche über den jeweiligen Text gesagt und mit dem passendem mythologischen oder motivgeschichtlichen Stichwort der Schlüssel zum Text gefunden sei – was wiederum voraussetzt, dass es überhaupt einen oder gar den einen zentralen Schlüssel gibt. Ähnlich ist es – um auch vor der eigenen Tür zu kehren – mit den Nibelungen-Motiven in ›Kaff auch Mare Crisium‹ bestellt. Nicht nur, dass mir meine eigene Beweisführung heute nicht mehr so überzeugend erscheint wie vor 15 Jahren – sie geht im Kern am Text vorbei. Dass das ›Nibelungenlied‹ in der Vorstellungswelt Karl Richters eine dominante Rolle spielt, ist offensichtlich – warum es das tut, wird auch mit einem Detailnachweis der Bezüge nicht einsichtiger. Das große Thema des Romans – die Kommunikationskatastrophe zwischen Karl und Hertha, die beklemmende Innenperspektive eines pausenlos, ja verzweifelt redenden Ichs, das sich aller Eloquenz zum Trotz seinem geliebten Gegenüber nicht mitteilen kann – wird mit einen Verweis auf das ›Nibelungenlied‹ eher verdeckt als erkennbar.

Die bis heute vielfach geübte Dechiffrierung und das Aufspüren von herbeizitierten Mustern in Schmidts Texten trägt aber immer schon die Zerstörung dessen in sich, das man im Akt der Auflösung zu verstehen glaubt. Ja, fast drängt sich bei einem Blick über die Sekundärliteratur der Verdacht auf, eben diese Zerstörung sei das eigentliche Ziel der dechiffrierenden Textaneignung. Die erste Lieferung des ›Bargfelder Boten‹ machte die hermeneutische Zerstörungswut nachgerade sinnfällig und erhob sie auch flugs zum Druckprinzip – die Seiten waren nur einseitig bedruckt:

der Benutzer kann die Hefte zerschneiden und die Dechiffrierungen und Fußnoten ohne Verlust dessen, was auf einer Rückseite stünde, in sein eigenes Verzettelungssystem bringen.

So wird der manische Schmidt-Leser – und nur an ihn richtete sich der ›Bargfelder Bote‹ – als »Bücherfresser und Verschlinger« erkennbar, der das Werk zerstören muss, um es sich anzueignen. Das Leser-Ich, so scheint’s, duldet kein anderes Ich neben sich – schon gar nicht ein so rechthaberisch-renitentes wie das der schmidtschen Texte. Oder, vielleicht genauer: Das Leser-Ich duldet das Ich der Texte einzig so lange, so lange es Schutz und Unterschlupf zu bieten scheint und gewissermaßen als Über-Ich und unendliche Projektionsfläche eine gemeinschaftsbildende Kraft entfaltet, mit der der reale Autor Arno Schmidt durch anekdotische Mythologisierung zum eigenbrötlerischen Stiftungsvater einer elitären Gelehrtenrepublik und sein radikales Anders-Sein als fast liebenswerte Marotte eines schroffen Misanthropen verniedlicht wird, der unterm Strich schließlich doch »einer von uns« war (was ja die eigene Erhebung und nichts anderes bedeutet als: »Wir sind wie er«).

Mit zunehmender Entwicklung und Entfaltung des schmidtschen Werkes musste diese Art der Aneignung in eine Krise geraten: Zu deutlich und zu autark entwickelt sich in den Texten ein Ich, das jede vereinnehmende Verharmlosung unmöglich macht und das auch die bewundernde Rede vom Einsiedler, Eigenbrötler, erratischem Block in der Literaturlandschaft, dem »Solipsisten in der Heide« und was dergleichen feuilletonistische Familienalbumssentenzen mehr sind, verstummen lässt. Sie können zueinander nicht kommen, das Ich der Texte und das Ich des Lesers. Was sie verbindet, trennt sie auch: Radikaler als in Schmidts Werk wird Sprache nicht beschworen, radikaler das Gespräch nicht verweigert.

IIIDie verschlingende Aneignung des Werkes kollabiert angesichts der Werkentwicklung. Das gängige Schmidt-Bild, wie es in unzähligen Feuilletons, Erinnerungen und Porträts dokumentiert ist und einen eher kauzigen Einsiedler in der Heide beschreibt, der als wütender Polyhistor »engagierte Literatur« schreibt – wie immer dieser Begriff auch gefüllt sein mag –, erweist sich spätestens mit ›Zettel’s Traum‹ als offensichtlich unhaltbar, und wer sein Schmidt-Bild dennoch behalten will, der muss über das Spätwerk im Allgemeinen und ›Zettel’s Traum‹ im Besonderen ignorierend hinwegsehen, wo er es nicht als bedauerlichen Irrweg Schmidts verneinen oder gar bekämpfen muss.

Schmidt habe im Alter »die Etyms entdeckt«, sagte Peter Rühmkorf auf der Podiumsdiskussion im Rahmen der »Julianischen Tage 1999« mit einer Miene, die einiges Unbehagen ahnen ließ, und ab dieser Entdeckung könne er ihm nicht mehr folgen. Das Unbehagen über das Spätwerk Arno Schmidts durch den Arno-Schmidt-Preisträger des Jahres 1986 mag hier als pars pro toto für jene »missmutige Scheu« stehen, die Jörg Drews und Doris Plöschberger sicherlich nicht zu Unrecht unter den Schmidt-Lesern ausgemacht haben, sobald die Rede auf ›Zettel’s Traum‹ kommt und die wohl als umschreibende Formel für den Umgang mit dem Spätwerk im Ganzen gelten kann. Denn auch wenn ›Die Schule der Atheisten‹ oder ›Abend mit Goldrand‹ zweifellos häufiger gelesen werden als ›Zettel’s Traum‹, so rangierten sie wohl dennoch bei einer Umfrage nach den beliebtesten Texten Arno Schmidts deutlich unterhalb von ›Das Steinerne Herz‹, ›Brand’s Haide‹ oder ›Kaff auch Mare Crisium‹.

Nun ist es eine normale Erfahrung, die jeder Leser mit dem umfangreichen Werk eines Autors macht, dass einem nicht alle Texte gleichermaßen zusagen und man bei einem ansonsten sehr geschätzten Autor den einen oder anderen Titel nennen kann, der einem ausnahmsweise nicht so gefällt wie das übrige Werk. Doch die »missmutige Scheu« den Typoskriptromanen gegenüber richtet sich gegen rund 15 Jahre schriftstellerischer Tätigkeit Arno Schmidts – und damit fast die Hälfte der rund 33 Jahre zwischen 1946 und 1979, in denen er schrieb und publizierte. Da kann schwerlich noch von einer Ausnahme geredet werden, ja, mehr noch: Die Ablehnung der späten Texte Arno Schmidts führt zu einer Rückkopplung und hat Konsequenzen auch für die Wertschätzung des Werkes bis etwa ›Sitara‹: Denn dass das, was in den letzten 15 Lebensjahren Arno Schmidts entstanden ist, nicht eine konsequente Fortführung des vorhergehenden Werkes (inklusive der ›Juvenilia‹) ist und dort nicht bereits im Keim enthalten sein soll – und davon muss ausgehen, wer das frühe Werk vor dem Monstrum ›Zettel’s Traum‹ in Schutz nehmen will –, ist eine nur schwer nachvollziehbare Vorstellung. Die Entwicklung der schmidtschen Texte bietet zwar verschiedene formale Neuansätze (so markiert ›Kaff‹ zweifellos einen Endpunkt, der zum Neuanfang in Form der ›Ländlichen Erzählungen‹ und ›Sitara‹ führte) und wohl auch Sackgassen (so weit ich sehe, wurde die »Fotoalbum«-Technik der ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ und der ›Umsiedler‹ nicht wieder aufgegriffen), doch einen so radikalen Bruch, wie es das Erscheinen von ›Zettel’s Traum‹ vielleicht suggerieren mag, hat es im Werk Schmidts schließlich doch nicht gegeben: Wer das Spätwerk ablehnt, sollte seine Bewunderung fürs frühe und mittlere Werk überdenken.

Dabei nimmt die radikale Abwehr des Spätwerks mitunter die Form des avanciertesten Verständnisses an. So etwa, wenn Rüdeger Baumann kurzerhand den von der Arno Schmidt Stiftung vorbereiteten Satz von ›Zettel’s Traum‹ als »nicht mehr zeitgemäß« abqualifiziert. Wer nicht schon bei der Vorstellung den Braten riecht, die Präsentation und Lektüre von Literatur habe etwas mit Zeitgemäßheit zu tun, den belehrt ein Blick auf Baumanns eher skurrile Argumentation und Prämissen, dass sich hier die Flucht vor dem Werk als besonders fortgeschrittenes Textverständnis begreift.

Die »unübersichtliche Typographie« von ›Zettel’s Traum‹,

das Fehlen von Absätzen, […] die ungewöhnliche Orthographie und Interpunktion sowie die Wortverschreiberei (Etyms), […] die beiden Randspalten, […] der Mangel an Orientierungsmöglichkeiten hinsichtlich des Gesamtzusammenhangs und schließlich die […] eingestreuten Zitate

lassen, so Baumann, jeden Lektüreversuch des Romans in frustrierende Langeweile münden. Er kommt erst gar nicht auf die Idee, dass etwa die Absatzlosigkeit und damit die »endlose Textsäule« vom Autor beabsichtigt sein könnte, im Gegenteil: »Es muß«, dekretiert er kurzum, »eine Darstellungstechnik gefunden werden, die diese Übel [!] abstellt und zugleich das Fesselnde und Kurzweilige von Schmidts Prosawelt […] besser zur Geltung bringt.« Daher skizziert Baumann ein rudimentäres Hypertext-Modell, in das er ›Zettel’s Traum‹ überführt sehen möchte:

Wird die Option Kontext angewählt, erscheint ein Text, der die aktuelle Situation […] vergleichsweise detailliert beschreibt. […]. Unter Format erhält der Betrachter mehrere Optionen: Erstens kann er die linke oder rechte Randspalte […] aus- oder einblenden. Zweitens läßt sich – etwa durch geeignete farbliche Unterlegung – sichtbar machen, ob man sich mit dem Haupttext […] links, in der Mitte oder rechts befindet. Drittens können die von Schmidt angebrachten Schrägstriche als Absatzmarkierungen fungieren […]: damit läßt sich wesentlich besser erkennen, welche Person gerade spricht. Es ist auch zu überlegen, ob die jeweilige Rede (in Abhängigkeit von der Person) farblich unterlegt wird (Franziska grün, Wilma blau etc.).

– Da fehlt doch was? Richtig: »Viertens kann der Originaltext sichtbar gemacht werden.« Na, immerhin.

Das Modell verblüfft weniger durch seine hemdsärmlige Naivität als vielmehr durch den unerschütterlichen Glauben, mit der Zerlegung des sehr großen Buches in handliche Hypertexte seinem Verständnis nahe zu kommen – als ließe sich der Text einfach in mundgerechte Portionen zerlegen, die bereits verstanden sind, wenn man weiß, ob und was der Autor da gerade zitiert. Dabei wird das Buch doch nur negiert: Fast scheint es so, als würde schon die Tatsache, dass dieses Buch so aussieht, wie es aussieht und sich so liest, wie es sich liest, den fröhlichen Hypertexter verärgern, und der Roman würde schon durch sein bloßes So-Sein als Bedrohung gewertet, die zügig und unverzagt möglichst klein und handlich beiseite geräumt werden muss. In Baumanns Modell erscheint ›Zettel’s Traum‹ als ein etwas missratenes Buch, dem er zwar mit strenger Miene schlechte Stilnoten verpasst, dem aber – Gnade der späten Geburt – die just verfügbare Technik aufhelfen könne, um die hässlichen Patzer des Autors auszubessern. Denn für Baumann scheint es völlig außer Frage zu stehen, dass Arno Schmidt, hätte er nur lange genug gelebt, seine Romane natürlich nicht als Typoskripte, sondern als Hypertexte unters Volk gebracht hätte.

Damit wird Schmidts Werk zu einer langweiligen Zwiebel, von der man per Mausklick Schicht um Schicht fein säuberlich abtrennen kann, bis am Ende nichts mehr übrig bleibt als ein Haufen Zitate und beliebiger Verzweigungen. Mit diesem tränentreibenden Unterfangen wird Schmidts Werk exakt zu dem, was Kritiker in ihm immer schon zu erkennen glaubten: zu einem Sammelsurium ebenso arbiträren wie obsoleten Wissens, das mit lächerlich großer Kraftanstrengung und unter Aufbietung aller möglichen Tricks auf Teufel komm raus verbunden wird. Als habe der einsame Mann in Bargfeld um den Preis seines Lebens nur ein paar schale und dümmliche Witze gemacht.

IVBaumann ist nicht der einzige, der sich im Besitz des exklusiven Wissens glaubt, was Arno Schmidt zu diesem oder jenem wohl sagen würde, wenn er noch etwas zu sagen hätte: Auch Friedrich Forssman, der ingeniöse Setzer der ›Bargfelder Ausgabe‹, weiß »den Autor auf [s]einer Seite«, wenn es um die Frage geht, wie mit den Typoskripten umzugehen ist: Sie unterscheiden sich für ihn nicht oder nur marginal von anderen Manu- und Typoskripten. Als solche sind sie nichts anderes als Rohfassung von Texten, die erst durch die typografische Umsetzung zum Buch werden und ohne die Hebammenkunst der helfenden Setzerhand nur als halbfertige Bastarde auf die Welt gekommen sind. Ein Übelstand, den die ›Bargfelder Ausgabe‹ durch den Satz der Typoskripte beheben will:

Die Typoskripte […] unterscheiden sich, editorisch gesehen, […] nicht von den Typoskripten früherer Werke – sie werden folglich genau wie jene als Satzvorlagen für einen Setzer behandelt. Das heißt: Streichungen, Ausbesserungen, hand- und maschinenschriftliche Einfügungen […] werden genau wie in den bisherigen Bänden […] im Satz stillschweigend ausgeführt.

Die Arno Schmidt Stiftung hat ihr Vorgehen auf einem Beiblatt zur Ausgabe der ›Julia‹ innerhalb der ›Bargfelder Ausgabe‹ knapp erläutert und begründet. Mit dem Satz der letzten Werke Arno Schmidts würde zum einen dem Wunsch des Autors entsprochen, der »das schließlich praktizierte photographische Faksimileverfahren als eine aus technischen und finanziellen Schwierigkeiten geborene Notlösung« betrachtet habe, das ihn immerhin »von dem ihm stets lästigen Korrekturlesen befreite«. Als Beleg führt man Schmidts Ausführungen in ›Vorläufiges zu Zettels Traum‹ an, auf die sich auch Forssman beruft, der dort ein »Bedauern über die Unsetzbarkeit« von ›Zettel’s Traum‹ erkennt. Als weiterer Beleg für den Autorwillen gelten briefliche Äußerung Schmidts an seinen Lektor Ernst Krawehl, die allerdings noch nicht gedruckt vorliegen. Danach soll Schmidt 1975 in mehreren Briefen »im Rahmen einer Werkausgabe mit dem Gedanken an eine gesetzte Fassung von zumindest »›Die Schule der Atheisten‹ gespielt« haben. In die gleiche Richtung weist ein Brief Ernst Krawehls vom 15. Juni 1974 an Horst Denkler, aus dem, so Denkler, hervorgehe, Schmidt habe beabsichtigt, »die Neuauflage der ›Schule der Atheisten‹ im ›normalen Drucksatz setzen‹ zu lassen«.

Die bisher vorgelegten Arbeiten von Friedrich Forssman sind fraglos eine bewundernswerte typografische Leistung, der Zugewinn an Lesbarkeit bei der ›Schule‹, dem ›Abend‹ und der ›Julia‹ gegenüber den Typoskripten ist derart hoch, dass sich die Frage, was verloren geht, wenn die ungeschützte und heillose Form der bisherigen Textpräsentation mit ihren Schwärzungen, handschriftlichen Korrekturen, eingeflickten Zetteln und Bildern, stehen gebliebenen Satzanweisungen und ähnlich handfesten Spuren und Wunden der schreibenden Schöpferarbeit in den sauber gebändigten Blocksatz gepresst wird, fast nicht zu stellen scheint. Die direkte Gegenüberstellung von Typoskriptseiten und gesetzter Fassung legt den Schluss nahe, dass das, was bisher so glänzend gelang, auch bei ›Zettel’s Traum‹ gelingen wird: Die bisher publizierten Satzproben lassen kaum einen Zweifel aufkommen, dass die gesetzte Fassung von ›Zettel’s Traum‹ das Riesenbuch um ein Vielfaches lesbarer und damit zugänglicher machen, unzählige, vom Autor nicht intendierte, Lesehindernisse aus dem Weg räumen und so den Blick auf den Text erst recht eigentlich freilegen wird.

Doch bei aller Bewunderung für die grandiose Arbeit und auch wenn man geneigt ist, angesichts der gesetzten Fassungen allen insgeheim gehegten Bedenken stillschweigend Valet zu sagen – ganz so eindeutig und einfach, wie es sich bei Forssman und der Stiftung liest, ist der Fall nun wohl doch nicht. Dabei kann es – das sei nahe liegenden Missverständnissen vorbeugend eingeschaltet – natürlich nicht darum gehen, die Typoskripte gegen die gesetzten Fassungen auszuspielen oder diese gar als editorischen Irrweg zu denunzieren. Auch wer bezweifeln möchte, dass das, was beim Satz gegenüber den Typoskripten verloren geht, nur eine zu vernachlässigende Kleinigkeit ist und dass die gesetzten Fassungen vollständig an die Stelle der bisherigen Typoskriptausgaben treten könnten, wird nicht zwangsläufig zu dem Schluss gelangen, die gesetzten Fassungen seien »schlechter« als diese oder gar obsolet. Wohl niemand würde ernsthaft bestreiten wollen, dass etwa die Manuskriptform von Robert Walsers ›Mikrogrammen‹ essenziell zum Werk gehört – aber ebenso käme wohl niemand auf die Idee, die Transkription und damit die Lesbarmachung der Texte als unzulässig abzulehnen: Warum sollte es – mutatis mutandis – bei Arno Schmidts Typoskripten anders sein? Auch wenn es Friedrich Forssman den »Angstschweiß auf die Stirn« treibt – aber es wird wohl trotzdem so sein, »daß der ernsthafte Leser künftig gezwungen sein könnte, mit zwei derart unhandlichen Büchern umzugehen statt immerhin nur des einen«. Das ist, Forssman zum Trost sei’s gesagt, kein Manko der gesetzten Fassung, sondern liegt in der Natur der Sache.

VDie Bedenken melden sich bereits bei dem von Stiftung und Forssman interpolierten Autorenwillen: Ist es wirklich so unzweifelhaft, dass Arno Schmidt seine Typoskripte am liebsten als gesetztes Buch gesehen hätte? So spricht aus den herangezogenen Selbstaussagen Schmidts in ›Vorläufiges zu Zettels Traum‹ nicht unbedingt ein eindeutiges »Bedauern über die Unsetzbarkeit« des Buches, schließlich sagt Schmidt dort nicht nur, dass sich »das Buch vermutlich nicht mehr setzen lassen« werde, sondern auch, dass er aus der Not »ne Tugend insofern gemacht habe«, als er sich »Zeichnungen am Rande erlaubt habe, oder Bildvorlagen, die [ihn] anregten«. Er hat – ob nun bedauernd oder nicht – die Produktionsbedingungen des Buches also nicht nur akzeptiert, sondern auch sogleich für den Schreibprozess fruchtbar gemacht. Doch nicht nur das – wenig später sieht er die Typoskriptform gar als Pionierleistung, mit der er »die Bahn gebrochen, und dargetan« habe, dass »Bücher der eben skizzierten Art eigentlich nur noch als Manuskripte vorgelegt werden können«. Obendrein, fährt er fort, sei »es ja für Kenner – auch gar kein Reiz weniger nun praktisch das OriginalManuskript zu bekommen«. Nimmt man den etwas später gegebenen Hinweis auf Edgar Allan Poes Aufsatz ›Anastatic Printing‹ hinzu (den Schmidt für die Poe-Ausgabe übersetzte), in dem Poe es »begeistert begrüßt« habe, »daß man Bücher im Manuskript veröffentlichen sollte«, dann will einem Schmidts »Bedauern über die Unsetzbarkeit« von ›Zettel’s Traum‹ eine vielleicht nicht mehr gar so zwingende Interpretation des Gesagten und Begründung für den Satz der Typoskripte scheinen.

Dies gilt auch für die in Briefen an Ernst Krawehl offensichtlich gelegentlich geäußerte Idee, zumindest ›Die Schule der Atheisten‹ setzen zu lassen – schließlich finden sich in Schmidts Briefen immer wieder Ideen, Pläne und Ankündigungen dessen, was er alles noch zu tun gedenke, ohne dass eine Auswirkung dieser brieflich fixierten Pläne auf das, was er dann tatsächlich getan hat, immer erkennbar wäre. Es ist zumindest nicht ganz undenkbar, dass es mit Schmidts Satzwünschen der ›Schule‹ kaum anders bestellt ist und sie zu den anderen, nie realisierten Ankündigungen und Wünschen gerechnet werden können.

Wie Schmidt sich die Erscheinungsform von ›Zettel’s Traum‹ gewünscht und gedacht hat, lässt sich aus den Briefen Alice Schmidts an Ernst Krawehl ablesen. So war es ihm wichtig, dass der Roman als Ganzes in Form eines »Großbuches« erscheint, dies sei die »eigentliche und einzig angemessene würdige Form […], wie von meinem Mann geplant«. Was den Satz des Buches angeht, dessen Problematik sich im Fortgang der Arbeit ja immer deutlicher gezeigt haben dürfte, so scheint Krawehl vorgeschlagen zu haben, Schmidt solle als sein eigener Setzer ›Zettel’s Traum‹ in eine »Composer- Schreib- u. Setzmaschine« tippen, was aber wegen des doch erheblichen Zeitaufwands nicht weiter erwogen wurde:

Bedenken Sie doch aber, daß, falls sie sich für meinen Mann als praktikabel erwiese und er damit ›Zettel’s Traum‹ […] ein 2. Mal »ins Reine« schriebe, allein diese Zeit viele Monate dauerte.

Mehr als ein Jahr nach diesem Brief, im Sommer 1968 und damit kurz vor dem Abschluss des Buches, scheint Schmidt sich mit der Faksimile-Ausgabe von ›Zettel’s Traum‹ abgefunden zu haben und den Druck des Buches nun endgültig abzulehnen:

Die Idee einer nochmaligen monatelangen Abschrift hat mein Mann völlig aufgegeben: aber nicht die der Fotokopie: so wie das MS jetzt ist. Ich glaube allerdings er beharrt nicht unbedingt hartnäckig darauf, sieht aber dies als besten Weg. Vielleicht wäre er aber vom Druck nicht unüberzeugbar.

Doch selbst, wenn unzweifelhaft feststünde, dass »Arno Schmidt die vom Faksimile versprochene Nähe zum unmittelbaren Schreibvorgang unerwünscht war« (wie »die Editoren« als gesichert vermuten), so kann dies doch nicht über die simple Tatsache hinwegtäuschen, dass das Spätwerk nun mal nicht nur als Typoskript erschienen ist und rezipiert wurde, sondern – und das ist keine Kleinigkeit – dass es seinem Autor während der Arbeit bewusst war, wie seine Texte in Zukunft den Leser erreichen werden: nämlich genau so, wie er sie in die Maschine tippte, ohne dass ein Lektor, Setzer oder gar Korrektor daran noch etwas ändern könnte. Dieses Wissen des Autors hat im Werk seine Spuren hinterlassen – am deutlichsten wohl da, wo Schmidt einzelne (vermutlich besonders stark korrigierte) Seiten noch einmal sauber abgetippt hat und die daher nun in ›Zettel’s Traum‹ »als optisch ruhigere Inseln wahrnehmbar« sind. Doch sollten sich die Wissensspuren wirklich nur in diesen eher oberflächlichen Merkmalen erschöpfen? Sonderlich abwegig scheint mir die Vermutung nicht, dass die veränderten Prämissen der Buchproduktion das Ergebnis sehr viel tiefgreifender und fundamentaler beeinflusst haben, als sich lediglich in Form von gelegentlichen Reinschriften zu zeigen.

VIDer »Satz der späten Typoskripte Arno Schmidts«, so heißt es auf dem Beiblatt zur gesetzten Fassung der ›Julia‹, biete einen »dem Kenner dieses Werks zweifellos ungewohnten Anblick« – das ist so zweifellos richtig, wie es zweifellos die ursprüngliche Erschütterung, die der ungewohnte Anblick des Werkes in seiner originalen Gestalt beim First Contact des Nochnicht-Kenners ausgelöst hat, ver- und überdeckt.

Am Anfang aller Lektüre steht, so könnte man den bekannten Sinnspruch über das, was Philosophie ausmache, abwandeln, das Staunen über die Vielfalt der Texte – am Anfang aller Typoskript-Lektüre steht eine schockhafte Erschütterung der gewohnten, angelesenen Ordnung: Wer dieses Buch zum ersten Mal öffnet, öffnet den Zugang zu Buchstabenwelten, von deren Existenz er sich keine Vorstellung machen konnte. Ein Blick auf das Patchwork der Typoskriptseiten von ›Zettel’s Traum‹ zeigt, wie recht Schmidt hatte, als er sagte, der Roman zeige »das Flickwerk unserer Eingeweide, und den Schmelz der Interpunktion«.

Schmidts Typoskripte nehmen eine faszinierende Zwitterstellung nicht nur in seinem Werk ein; sie stehen auf der Grenze zwischen »noch nicht« und »nicht mehr«, sie haben sich noch nicht als gesetztes Buch vollständig vom Autor getrennt, sind aber als gedrucktes Typoskript auch nicht mehr ganz bei ihm: »News from Nowhere.« Durch den Satz der Bücher wird diese eigenartig changierende Stellung aufgehoben. Er setzt dem Schreibprozess ein definitives Ende und verleiht den Texten eine formale Abgeschlossenheit, die ihnen von Haus aus nicht zukommt. Die »VerschreibKkunst«, die Arno Schmidt in Abend mit Goldrand beschwört, kann ja nicht nur auf die bewussten, etymistischen Verschreiber und Vieldeutigkeiten bezogen werden, sondern durchaus auch die realen Tippfehler des schreibenden Ichs meinen, die in der Edition »stillschweigend berichtigt« wurden, vom Typoskript aber bewahrt und als Hinweis auf die Durchlässigkeit des Autors für den schöpferischen Prozess gelesen werden können, dessen völlige Kontrolle er nicht mehr behauptet.

Richtet man sein Augenmerk auf die Frage, wie die Texte ihr eigenes Vorhandensein innerhalb der erzählerischen Fiktion plausibel machen, so stellt man fest, dass in den frühen Werken wie ›Enthymesis, ›Leviathan‹, ›Gadir‹, ›Alexander‹, ›Brand’s Haide‹ oder ›Schwarze Spiegel‹ die Aufschreibsituation immer wieder durch kleine Einschübe reflektiert wird und die Tagebuchfiktion gewissermaßen ein realistisches Unterfutter bekommt. In den späteren Werken verlieren sich derartige Spuren, bis schließlich – etwa bei ›Kaff auch Mare Crisium‹, aber auch schon in ›Das steinerne Herz‹ – die Tatsache des Aufgeschrieben-Seins der Texte nicht nur überhaupt keine Rolle mehr zu spielen scheint, sondern jeder Anspruch auf den naiven Realismus einer Manuskript- oder Tagebuchfiktion aufgegeben wird. Es finden sich nicht nur keine Strategien, um die Verschriftung innerhalb der Romanfiktion plausibel zu machen, es gibt überdies unzählige Stellen, an denen, um beim Beispiel ›Kaff‹ zu bleiben, die Dialoge zwischen Karl, Hertha und Heete kaum noch als immerhin mögliche Gespräche zwischen realen Figuren nachvollziehbar sind, beziehungsweise in denen Hertha und Heete auf eindeutig Gedachtes, aber nicht Ausgesprochenes von Karl reagieren – was einen auf den Gedanken bringen könnte, ›Kaff‹ als reines Selbstgespräch des schreibenden Ichs zu lesen, das sich im Textvollzug erst erschafft und einzig in ihm existiert. Der Realismusanspruch meinte dann in letzter Instanz nur den Text selbst: Real und wirklich ist allein der Schreibprozess.

Dies wiederum verführt zur gewagten Spekulation, die Typoskriptform des Spätwerks sei nicht akzidentiell, sondern Endpunkt einer von Anfang an im Werk vorhandenen Textdynamik, die sich erst im Spätwerk ihrer selbst bewusst wird. Wäre sie, die Typoskriptform, vielleicht die einzig adäquate Form, in der sich das erzählende Ich realisieren und mitteilen könnte? Können die späten Werke vielleicht auch deshalb auf ein zentrales Ich verzichten, weil es im Typoskript unmittelbar präsent und allgegenwärtig ist? Die Verwandlung des Autors in sein Buch – ein Leitmotiv der schmidtschen Texte – bekäme so eine etwas unheimliche Dimension. Die Typoskripte wären dann die engste Annäherung an den sprachschöpferischen Akt, in dem sich Autor, Leser und erzählendes Ich begegnen können: Fürwahr – unter dieser Perspektive sind die Typoskripte in der Tat »ein Akt der Selbstlosigkeit« und »eine gewisse Anstrengung selbst [s]eines Mutes«.

VIIDas Spätwerk redet über ›Zettel’s Traum‹ immer nur in Metaphern, es ist das »Große[…] Buch […] an den grenzen der sprache«, und damit an denen der Versteh- und Beschreibbarkeit auch für seinen Autor, der in naiveren Momenten als denen, in denen er es schrieb, nur in superlativischen Formeln über sein Werk redete. Dies sorgt in der Sekundärliteratur immer wieder für Verärgerung der Leser über die Großmäuligkeit Schmidts und ist doch nur beunruhigendes Dokument der Hilflosigkeit des Schöpfers vor seiner Schöpfung. Was es für Arno Schmidt wirklich bedeutet haben mag, ›Zettel’s Traum‹ zu schreiben, können wir nur ahnen:

Ich habe es nicht gern gesehen, daß mein Mann ›Zettels Traum‹ schrieb. Alfred Andersch sagte einmal: ein Buch schreiben, das ist Mord. Was sagte AS, wie vielen Büchern rein umfangmäßig ›Zettels Traum‹ entsprach. 17? Und um wievielfach größer sagte er, daß die Schwierigkeit war, dieses eine große Buch zu schreiben als 17 Romane? Sagte er 100 Mal? Haben Sie eine Vorstellung davon, ein wievielfacher Mord das war? Keine Spaziergänge mehr – kein Sitzen im Garten – kein Sonntag – kaum die Möglichkeit eines Gespräches: auf Fragen nur abwesend nervöse Antworten: bestenfalls. – Im ständigen Gemurmel, wortprobierend, bewegten sich seine Lippen. Völlige Vernachlässigung der eignen Gesundheit. Völlige Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht ZT betraf. Er nahm von keinem Brief Kenntnis. Schrieb keinen: jahrelang.

VIII»Essays sollte man erst verfertigen, wenn man nischt anderes mehr kann: also gleich aufhören jetzt!«

Der Anmerkungsteil wurde gegenüber der gedruckten Fassung drastisch reduziert, auf reine Zitatnachweise grundsätzlich verzichtet.

1
Am dümmsten vermutlich bei Martin Henkels rund hundertseitigem ›BLUFF auch mare ignorantiae, oder: Des king!s neue Kleider. Eine Studie zu Wesen, Werk und Wirkung Arno Schmidts‹ (Hamburg, Kellner 1992) der – auf einen Schelm anderthalben – die besserwisserischen Posen der Ich- Erzähler mit nun knallharter Ganzgenauwisserei konterkariert und sich gar nicht genug darin tun kann, Schmidt Fehler, Ungenauigkeiten und Bluffs zuhauf nachzuweisen. Der Eifer, mit dem Henkel sich an einem – nach eigenem Urteil – völlig bedeutungslosen Autor zu schaffen macht, ist allerdings erstaunlich. Vgl. dazu auch Klaus Theweleit, ›»you give me fever«. Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas‹, Frankfurt a. M., Stroemfeld 1999, S. 303–306.
2
Nimmt man Schmidts essayistische Texte als diskursive Sachtexte ernst – was man nur unter Vorbehalt tun sollte –, dann kann der manchmal veritable Unfug, den Schmidt zwar mit geradezu provinzieller Engstirnigkeit, dafür aber mit voller Überzeugung, der Lösung aller Rätsel nahe zu sein, vorträgt, immer wieder für heftiges Kopfschütteln sorgen. So sah sich etwa Wolfgang Hildesheimer in seiner Ablehnung von Schmidts Joyce-Thesen anläßlich einer negativen Rezension des Triton durch das ›Times Literary Supplement‹ vom 18.12.1969 bestätigt und konnte sich in einem Brief an Alfred Andersch gar nicht beruhigen: »Aber in Wirklichkeit geht es natürlich um mehr: er hat Joyce überhaupt nicht verstanden. Schmidt meint, man müsse sich für eine der beiden Lesarten entscheiden, das ›mystische‹ Modell, (wobei Schmidts Begriff des Mystischen, gelinde gesagt, völlig unwissenschaftlich ist) oder das ›biographische‹. Daß es mindestens drei, maximal aber sechs Stimmen in dieser Partitur gibt, und daß es eben das Wesen und die Größe des Buches ausmacht, daß diese ›Stimmen‹ übereinanderkopiert sind, das scheint Schmidt nicht begreifen zu wollen […] Kann er eigentlich Englisch? Ich meine natürlich, genug Englisch.« (Wolfgang Hildesheimer, ›Briefe‹, hg. v. Silvia Hildesheimer u. Dietmar Pleyer, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1999, S. 166.)
3
Hans Wollschlägers Hinweis, dass die Nachtprogramme als autobiographisches Material gelesen werden sollten, kann gar nicht ernst und konsequent genug befolgt werden und weist weit über das scheinbar Naheliegendste wie offensichtliche Parallelen zwischen Schmidts Selbstverständnis und dem Lebensverlauf der jeweils Portraitierten hinaus (vgl. Hans Wollschläger, ›Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt‹, in: ›Arno Schmidt Preis 1982 für Hans Wollschläger‹, Bargfeld, Arno Schmidt Stiftung 1982, S. 19–62, hier S. 36). – Auch der Ansatz, in den Essays nicht mehr als den Versuch zu sehen, sich mit einem Gegenkanon trotzig seine eigene Traditionslinien zusammenzuschustern, greift zu kurz. Eher schon müsste man das weltenerschaffende Element in den Blick bekommen, wie sich da jemand seine eigene Geschichte erschreibt und erschafft; vgl. dazu auch Ernst Krawehl in einem Brief an Horst Denkler vom 7.2.1983: »Arno […] baut sich statt aus Leim und Pappe eine Kulisse aus Fleisch und Blut für seine Jugendgeschichte auf – ist das keine enorme Leistung? (Und Vergewaltigung?)« (Horst Denkler ›»Orientierungshilfe für eine beispiellose Sache«. Briefe von Ernst Krawehl‹, in ›Zettelkasten‹ 15, hg. v. Dietmar Noering, Frankfurt a. M. u.a.: Bangert & Metzler 1996, S. 269–285, hier: S. 274.)
4
Schmidts Formulierung ist zwar nicht direkt falsch, kann aber auf eine falsche Fährte locken. Poe geht es weniger um den Reiz für Kenner, »nun praktisch das OriginalManuskript zu bekommen«, sondern um die kalligraphischen Konsequenzen des Verfahrens (»wird zur Ausbildung und Pflege einer sauberen & deutlichen Handschrift führen«) und vor allem um das bei einfacher Reproduzierbarkeit von Texten sich ergebende Problem der Urhebervergütung: »Aus dem was wir hier vorgetragen haben, wird ersichtlich sein, daß die Entdeckung des Anastatischen Drucks die Notwendigkeit von Copyright-Gesetzen, (und speziell von international gültigen), nicht nur nicht-überflüssig macht; diese Notwendigkeit vielmehr noch weit dringlicher & augenfälliger hervorhebt.« – Was die Kalligraphie anbelangt, so hat Schmidt den Titel von Poes Aufsatz in ›Zettel’s Traum‹ als »UNÄSTHETIC PRINTING« verballhornt, was wohl als Kommentar zu Poes Hoffnungen angesichts der über 700 getippten Seiten des Romans gelesen werden kann, von dem sein Autor zu diesem Zeitpunkt schon wusste oder zumindest ahnte, dass er nur noch als Typoskript veröffentlicht werden wird.
5
Dieses Problem ist natürlich auch den Editoren der Typoskripte bewusst. – Es sei hier noch einmal betont, dass es nicht darum geht, die gesetzten Fassungen abzuwerten, sondern nur darum, die Sonderstellung der Typoskripte nicht aus dem Blick zu verlieren und darauf hinzuweisen, dass diese durch jene nicht an Bedeutung verlieren oder gar hinter den gesetzten Fassungen als zu vernachlässigender Erdenrest der Dichtung verschwinden.
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