Susanne Fischer, ›»Julia, laß das!«‹
Samstag, 25. September 2021
Mit Susanne Fischers ›»Julia, laß das!«‹ liegt die wohl vorerst letzte umfangreichere Publikation aus dem Nachlass Arno Schmidts vor. Begonnen hat die Arbeit an der nachgelassenen Zettel- und Materialsammlung zur ›Julia‹ im Jahr 2015. Geplant war seinerzeit eine Edition der vollständigen Zettel-Sammlung in Buchform, getragen von der Hoffnung, man könne in dem nachgelassenen Material Antworten auf die Frage finden, wie der Roman wohl ausgesehen hätte und wie Schmidt mit seinen legendären Zettelkästen eigentlich gearbeitet hat.
Nach der vollständigen Transkription der 13.339 Zettel (Fischer zählt rund 230 Zeitungsausschnitte, Dias und ähnliches Material als Zettel mit und hat sie durchnummeriert), musste man sich von dieser wohl etwas naiven Vorstellung allerdings verabschieden. Eine komplette Edition sämtlicher Zettel wäre nicht nur ein kompliziertes, zeitfressendes, umfangreiches und entsprechend kostspieliges Projekt gewesen, sondern auch eines, in dem Aufwand und Ertrag in groteskem Missverhältnis stünden, hätte es die Fragen doch nicht beantwortet und alle Hoffnungen auf Einblicke in Schmidts Arbeitsprozess enttäuscht:
Die Zettel verraten nicht, wie es in und mit dem Buch weitergegangen wäre. Sie erscheinen über weite Strecken kaum geordnet, nur zu größeren Themenkomplexen zusammengefaßt. Sind die Einzelepisoden zugeordnet, bleibt trotzdem meist vage, was dort passiert, wer sich wie äußert. Die Notizen geben so einerseits fast keine Hinweise auf den Verlauf der Handlung, während sich andererseits eine große Anzahl von Zetteln der obsessionellen Schilderung sexueller Akte widmet, wie sie Schmidts Lesern aus dem Spätwerk vertraut sind. […] Das umfangreiche Zettelkonvolut läßt ratlos zurück: Hätte es im Verlauf der Niederschrift weitere Notizen geben sollen? Hatte der Autor den Rest ohnehin im Kopf und brauchte die Zettel nicht? Oder plante er tatsächlich, ein Buch zu schreiben, dessen zweite Hälfte vorwiegend sexuelle Inhalte habe sollte?
Stichwort »Sex«: Von den gut 13.000 erhaltenen Zetteln lassen sich rund 5.000 den von Schmidt geschriebenen 100 Seiten der ›Julia‹ zuordnen, von den restlichen rund 8.000 haben etwa 5.000 »Geschlechtliches zum Thema«, wie Fischer – den Begriff »Pornographie« bewusst als unpassend und irreführend vermeidend – notiert: Will man das wirklich alles lesen? Ich für meinen Teil bin Fischer jedenfalls dankbar, dass sie uns das erspart und sich die Mühe gemacht hat, das Material sorgfältig zu sichten und zu beschreiben. Wer sich intensiv mit der ›Julia‹ beschäftigen möchte, wird von der Stiftung wohl Einblick in die komplette Transkription bekommen, doch nicht nur für’s Erste reicht Fischers Auswahl und Beschreibung mehr als aus.
Fischer beschreibt die Zettelkästen an den verschiedenen Registerkarten entlang, die Schmidt zur Trennung der einzelnen Bereiche angelegt hat, und fasst zusammen, was sich in den einzelnen Bereichen findet. Insgesamt werden wohl so um die 400 Zettel abgebildet, transkribiert und in referierenden Zusammenfassungen zitiert. Zudem finden sich (als Faksimile und Transkription) vier ›Entwürfe zu ›Julia, oder die Gemälde‹‹ und 25 Fotografien, die Jan Philip Reemtsma im Juni 1979 in Bargfeld aufgenommen hat und die vor allem Schmidts Schreibtisch und Arbeitszimmer zeigen.
Die Zettel bieten ein Sammelsurium aus Stichpunkten, Zitaten und Formulierungen, oft enthalten sie nur wenige Worte, selten auch etwas längere ausformulierte Passagen, die über mehrere Zettel reichen. Das vermittelt alles eine ungefähre Ahnung vom wohl geplanten Verlauf des Romans, Motivketten zeichnen sich ab, es finden sich manche interessante Details, berührende und auch eher verstörende Formulierungen, Verbindungen zur ›Schule der Atheisten‹ und zum ›Abend mit Goldrand‹ werden erkennbar (so notiert Schmidt auf Zettel 11.897 etwa die Idee, dass ein »Brief Martina’s ad AnnEv […] als Flaschenpost ad Insel?« eintreffen könnte) – aber wirklich valide Schlüsse lässt all das nicht zu.
Und ja, es geht in der Tat enervierend oft und immer wieder um: Sex. Das ist auf Dauer etwas ermüdend und man merkt der Autorin ihren wachsenden Überdruss gelegentlich auch an, was aber durch hübsche Formulierungen ausgeglichen wird:
Auch allgemeine Wahrheiten von äußerster Merkwürdigkeit finden sich hier: »es sind nicht Alle Rennfahrer, die Dir Deine Kurven kratzen« (7.520)
Sind die unzähligen Zettel mit Zoten, Zweideutigkeiten und allerlei Obszönitäten auf Dauer schon etwas ärgerlich, so wird es dann in dem Teil, in dem Schmidt Zettel unter dem Stichwort »Theorie« gesammelt hat, richtig übel:
Es ist nicht ganz leicht, eine Verbindung zwischen den verschiedenen hier versammelten Notizen zu ziehen – es geht um Zwerge, Mischlinge, Apartheid, die Arche Noah und ihre modernen Versionen und um Sekten.
Eine Kostprobe (Zettel 9.011) mag genügen:
»Gastarbeiter« (ein Wahnwitz, an dem die Trade Unions schuld sind!) – wo sich ganze Türken=, Italiäner=, JapanerViertel bilden, und jetzt bereits zahllose Mischlingskinder ’rumlaufen
Das kann natürlich alles Figurenrede sein, aber der Verdacht liegt schon ausgesprochen nah, dass der Autor das durchaus ganz genau so sah.
»Schmidts Arbeit mit Zettelkästen ist nur bedingt rekonstruierbar« schreibt Fischer, und einer der wenigen handgreiflichen Hinweise sind die Zettel, die Schmidt mit dem Vermerk »wandern« versah. Auf diesen Zetteln sind dann etwa durchgehende Motivketten notiert (»Schöne alte Musik einmischen! Wandern«), die Zettel »wanderten« beim Schreiben dann durch den Kasten, der anscheinend sequenziell abgearbeitet wurde. Aber sehr viel mehr Einblicke in Schmidts Arbeitsweise gibt es nicht.
Bei der Lektüre des Buches macht sich eine gewisse Sättigung wo nicht gar Langeweile bemerkbar, doch die »obsessionelle Schilderung sexueller Akte« wird auch erkennbar als Versuch, ihr Gegenstück abzuwehren, mit dem sie in düsterer Phantasmagorie zusammenfällt: Verfall, Sterben und Tod. Über allem liegt eine große ebenso ziel- wie hilflose Trauer, und es ist wohl kein Zufall, dass Schmidt auch einen Zettel aus ›Abend mit Goldrand‹ in die ›Julia‹-Sammlung übernommen hat:
Olmers: und ›tot‹ sein ist bestimmt genau so doof wie leben