Lese- & Lebenszeit

Freitag, 20. März 2020

In seiner Rezension zu Tobias Blumenbergs ›Der Lesebegleiter‹ schreibt Klaus Walther:

Arno Schmidt, der gern seinen Buchkonsum arithmetisch ordnete, meinte einmal in einem langen Leserleben könne man nur so um die 6500 Bücher lesen.

Jedesmal, wenn ich über dergleichen Verweis stolpere (und das passiert doch recht häufig), nehm’ ich mir vor, das einmal bei Schmidt nachzuschlagen – jetzt habe ich das endlich einmal getan.

Erstmals stellt Schmidt diese Berechnung in der Erzählung ›Ich bin erst Sechzig‹ auf, die er im Juni 1955 geschrieben hat:

Das Leben ist so kurz! Selbst wenn Sie ein Bücherfresser sind, und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zweimal zu lesen, schaffen Sie im Jahre nur 70. Und für die fünfundvierzig Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, die man aufnahmefähig ist, ergibt das 3150 Bände : die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!
BA I, 4, 30 f.

Sechs Jahre später – am 15./16. Juli 1961 – schreibt er den Essay ›Julianische Tage‹, in dem er erneut die Lesezeit eines Lebens (das hier in Tagen gemessen wird) berechnet:

Setzen wir, daß man vom 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei; dann hätte man, bei einem green old age von 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfügung. Nun kommt es natürlich ebenso auf das betreffende Buch, wie auch auf die literarische Aufnahmefähigkeit an. […] Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage 1 neues Buch – dann ergibt sich der erschreckende Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000 Bücher zu lesen vermag! Und selbst wenn man nur 3 Tage für eines benötigte, wären’s immer erst arme 5000.
BA III, 4, S. 91 f.

Allerdings setzt Schmidt hier den Zeitraum, in dem man »leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei«, etwas anders als in der früheren Erzählung an. Waren es dort die Jahre zwischen 15 und 60, sind es im Essay die Jahre von ~14 bis 55 (das Jahr einmal pauschal mit 365 Tagen gerechnet).

Kurz nach den ›Julianischen Tagen‹, im November 1961, arbeitet Schmidt am Fragment gebliebenen Dialog ›Die Tugenden der Kaulquappen‹, in dem es heißt:

A.: Zum Beispiel, daß man – vom 17. Lebensjahre an, wo der Mensch ungefähr anfängt, Gefühl für Literatur zu bekommen; bis zum 65., wo er, falls er fleißig & ehrlich gearbeitet hat, abgenützt ist, auch biologisch, und keins mehr hat – daß man in diesen rund 18.000 Tagen wieviel Bücher lesen kann?

B. (zögernd): Nuu ..... –: naja; das kommt auf Umfang und Schwierigkeit an. Und da Sie natürlich auf ›Gute Bücher‹ hinaus wollen, ..... (sinnend): 4 Tage für ein anspruchsvolles Buch, ist ja nicht viel; meist wird man mehr brauchen .....

A. (geduldig): Einigen wir uns dahin, daß man wirklich lesen, im Lauf seines Lebens so zwischen 3 und 4 Tausend Bände können wird.

Selbst wenn man Schmidts Lesezeitspanne etwas ausdehnt, auf etwa 15 bis 75 Jahre, und völlig unrealistische drei Tage pro Buch veranschlagt, kommt man auf maximal rund 7.300 Bücher. Das ist zwar mehr, als Schmidt vorrechnet, aber auch nicht gerade viel.

Übrigens führt Hans Wollschläger eine ähnliche Berechnung durch (›Von Sternen und Schnuppen‹, Göttingen, Wallstein 2006, S. 27 f.) und setzt dabei ein Pensum von rund 300 (!) Büchern pro Jahr und eine Lesezeit von 50 Jahren –

(auch der Gute Leser soll ein paar Jugendjahre geschenkt bekommen, damit er in Ruhe die unerläßlichen Dummheiten machen kann)

– an. Aber selbst mit diesen völlig illusorischen Eckwerten kommt man auf »grad 15.000 Bücher«. Tja.

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